Im Zweifel fürs Versuchskaninchen!

Eulen hören gern zu, und diverse Gelegenheiten, mit anderen über das gestrige Hearing zu sprechen, brachten meine Gehirnwindungen ziemlich auf Trab. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen eine solche Veranstaltung wahrnehmen: Ich hörte Äußerungen in der Bandbreite von „eine gelungene Veranstaltung“ über „die Zuhörerschaft war mir zu polemisch“ bis zu „eine reale Gefährdung liegt doch gar nicht vor“. Und besonders dieser letzte Punkt gibt mir zu denken – passt er doch zum Kern des Problems, den BISS-Vertreter Dr. Thomas Huk auf dem Podium unter großem Beifall zur Sprache brachte: dass einfach niemand mit gesundem Menschenverstand hinschaue und prüfe, ob der Standort in Thune überhaupt angemessen sei.

Wenn die KiKK-Studie, die bekanntermaßen während des Hearings zur Sprache kam, einerseits eine eindeutige Korrelation zwischen der Entfernung des Wohnortes von kerntechnischen Anlagen und dem Auftreten kindlicher Leukämie herstellt, auf der anderen Seite aber nach derzeitigem Kenntnisstand nicht nachweisen kann, dass die Ursache dafür in der Strahlenbelastung liegt, gibt es zweierlei Handlungsoptionen. Erstens: Jede beteiligte Partei besetzt einen Halbsatz obiger Aussage, verschränkt die Arme und blockiert ergebnislos jede Weiterentwicklung des Gesprächs. Oder zweitens: Man lässt den gesunden Menschenverstand walten und handelt gemäß dem abgewandelten Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, der in diesem Falle zu ersetzen wäre durch „Anwohner“ oder „Versuchskaninchen“.

Es verhält sich doch folgendermaßen: Solange Evidenz für eine Häufung bestimmter Krebsarten in definierten Bereichen rund um kerntechnische Anlagen vorliegt (und diese Evidenz ist lediglich dann strittig, wenn man statistische Häufigkeiten als mutwillige Fehlberechnungen ansieht), solange also die Beziehung „Wohnort / erhöhtes Erkrankungsrisiko“ eindeutig besteht, ist aus pastoraler Sicht vollkommen irrelevant, worin genau der Grund dafür besteht – man könnte in dieser Hinsicht einiges konstruieren, von „die Menschen haben einfach Angst und erkranken deshalb“ (das wurde mir heute entgegengehalten) über „es sind die begleitend eingesetzten Chemikalien“ bis zu „die Ursache ist tatsächlich die Strahlung, das hält man nur nach jetzigem Kenntnisstand für rechnerisch nicht plausibel“ – man MUSS die Menschen davor schützen und annehmen, dass die Häufung, auf welche Weise auch immer, durch den betreffenden Betrieb verursacht wird.

Die Bürger Thunes wären im Fall einer Erweiterung der Firma Eckert & Ziegler nichts anderes als Versuchskaninchen, denn zumindest theoretisch könnte Herr Dr. Eckert auf dem größeren Gelände die enorm hohen Werte ausschöpfen, die ihm in vorauseilendem Gehorsam zugebilligt worden sind. (Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass ein überregionales „Atommüll-Drehkreuz Braunschweig“ in Planung ist.) Die Stadt hätte in diesem Fall keine Möglichkeiten mehr einzugreifen, weil die Genehmigungen bereits vorliegen und eine Erlaubnis des Neubaus rechtlich nicht anfechtbar wäre. Damit ginge dann Dr. Eckerts Kalkül auf: Man hätte die Behandlung bereits erkrankter Menschen ausgespielt gegen das Risiko weiterer Erkrankungen, an deren Leid sich wiederum verdienen ließe. Zynischer geht es nicht. Aber die Logik eines allzu freien Marktes lässt dieses Denken zu, fordert es geradezu heraus, und Dr. Eckerts Instrumentalisierung der Erkrankung eines bekannten Politikers liegt genau auf der Linie dieser Philosophie. Die Erweiterung der Firma muss daher in jedem Fall verhindert werden!

Letztlich wäre der Schutz der Bevölkerung durch sinnvolle Investitionen in den bestehenden Betrieb seitens EZN sowie durch den Stopp der Erweiterung seitens der Stadt Braunschweig für alle die beste PR. Die Anwohner sind keine Versuchskaninchen, sie sind Menschen. Und Wähler. Und Käufer. Und, und, und…

… und Mitmenschen, denen das Leid an Krebs erkrankter Menschen nicht gleichgültig ist. Wir wollen auf keinen Fall verhindern, dass ihre Medizin nicht mehr hergestellt wird. Aber wir wollen auf jeden Fall verhindern, dass weitere Menschen erkranken – völlig unnötigerweise. Die Chance, das zu verhindern, bietet sich hier, nämlich dann, wenn Eckert & Ziegler die bestehende Firma besser abschirmt und das vor Ort noch gar nicht ansässige Subunternehmen in Braunschweig keine Baugenehmigung erhält. Handeln wir gemeinsam: Nächstenliebe ist kein leeres Wort, genausowenig wie Verantwortung. Seien wir Vorbilder.