Alles, was [R]echt ist

Augenblicklich erwartet ein Großteil der Bevölkerung in und um Braunschweig mit Spannung die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bezüglich der Strafanzeige, die Robin Wood und BISS gegen die Firma Eckert & Ziegler, das GAA-BS, den NLWKN und diverse andere Beteiligte gestellt hat. Aber wer ein bisschen näher darüber nachdenkt, bekommt Angst davor, dass diese Spannung bereits jetzt durch vorgefertigte Entscheidungen obsolet geworden sein könnte. Und zwar ganz ohne Korruption oder andere Illegalitäten.

Letztlich ist es doch so: Es gibt Situationen, in denen sich zeigt, ob Menschen wirklich Menschen sind oder lediglich Roboter; unter diesen Umständen ist es geboten, die eigene Mitverantwortung für das Gemeinwohl in den Vordergrund zu stellen und sämtliche Spielräume zu nutzen, um dem Guten Vorschub zu leisten. Und es gibt Situationen, in denen es dem Alltag Einzelner zuträglicher ist, auf Roboter umzuschalten und nach dem Motto zu handeln „Nach mir die Sintflut, ich halte mich an meine Vorschriften, und das genügt – alles andere bereitet mir zuviel Ärger“. Dummerweise sind das zumeist genau jene Situationen, in denen anderen Menschen große potentielle Schäden entstehen können, wenn der betreffende Mensch an der Schaltstelle nicht anfängt, von bloß legalem auf ebenfalls und in erster Linie legitimes Handeln umzuschalten.

Einen solchen Fall beobachten wir zur Zeit im Umgang der Behörden mit der Firma Eckert & Ziegler. Bislang ergibt sich nämlich leider der Eindruck, dass die eine Behörde der nächsten die Zuständigkeit – und damit die Verantwortlichkeit – zuschreibt und die eigenen Hände in Unschuld wäscht. Während des Hearings zogen sich sowohl die Stadt als auch der NLWKN und das Gewerbeaufsichtsamt deutlich darauf zurück, sie hätten entsprechend der – überdeutlich geschilderten – Vorschriften gehandelt. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass dies der Fall gewesen ist, so bleiben dennoch viele Fragen, die ein bisschen an das erinnern, was der Chaostheoretiker Dr. Ian Malcolm im Film Jurassic Park dem (eigentlich wohlmeinenden) Besitzer einer gentechnisch zum Leben erweckten Saurierherde entgegenhält: „Das Wissen ist nicht auf Ihrem eigenen Mist gewachsen, und deshalb übernehmen Sie auch keine Verantwortung.“

Dies wird an offensichtlichen Widersprüchen deutlich wie dem, dass einerseits Herr Aplowski vom GAA im NDR-Fernsehen aussagte, der Betrieb Eckert & Ziegler habe die Notfallpläne erstellt, während andererseits Herr Dr. Eckert während des Hearings zu Protokoll gab, für einen solchen Plan sei seine Firma nicht zuständig, sie hätten ihn folglich also auch nicht erstellt. Das gibt zu denken: Funktionieren hier die Instrumente nicht reibungslos, die einen Betrieb dieser Kategorie besonders zuverlässig überwachen sollten? (An dieser Stelle ist sogar unerheblich, dass es sich nicht um einen Betrieb der Atomindustrie, sondern „nur“ um einen Nuklearbetrieb handelt. Denn in ersterem Fall würde die organisierte Verantwortungslosigkeit nur noch schwerer ins Gewicht fallen. Gott sei Dank geht dieser Kelch – nach bisherigem Kenntnisstand – an uns vorbei.)

Ich kann und will die juristische Dimension dieses Verhaltens nicht beurteilen und postuliere deshalb hypothetisch, dass sich sämtliche Vorgänge im Rahmen legaler Spielräume bewegt haben. Gerade unter dieser Annahme stellt sich mir aber verstärkt die Frage: Hätte nicht angesichts der offenkundigen Widersprüche jemand aufmerksam werden müssen, hätte sich nicht jemand darum kümmern müssen – aus seiner Verantwortung als Mitmensch heraus, nicht weil es eine direkte Dienstanweisung gegeben hätte? Und hätte man nicht das Minimierungsgebot stärker ins Spiel bringen können (wenn nicht sogar müssen)? Hätte man nicht wenigstens das Verhältnis zwischen firmen- und bevölkerungsfreundlichen Maßnahmen irgendwie diskutieren müssen? Mir fehlt an dieser Stelle schlichtweg die offene innerbehördliche wie öffentliche Auseinandersetzung mit einem Thema, das uns alle betrifft.

Recht und Gerechtigkeit haben hier ihre Beziehung zueinander verloren; Gerechtigkeit scheint zu einer bloß philosophischen Kategorie herabgestuft, die man der Wirtschaft unterzuordnen hat. Und an dieser Stelle setzt etwas ein, das ich nur als „verkehrte Welt“ zu bezeichnen vermag, nämlich der Punkt, an dem es unserer Gesellschaft zur Zeit gebricht: Die Wirtschaft spielt die erste Geige, statt Über-Lebensmittel, Werkzeug, Mittel zum Zweck der Gesamtheit zu sein. Wahre Verantwortung sucht aber immer nach der bestmöglichen Lösung für alle Beteiligten, während viele Entscheidungsträger sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten angewöhnt haben, rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten am Ende des Tages den Zuschlag zu geben. Damit muss Schluss sein.

Spätestens wenn man sich ansieht, welche Kleckerbeträge die Verursacher möglicher radioaktiver Umweltverschmutzung zu tragen haben, mit welchen „Peanuts“ sie – sofern überhaupt! – für die gesundheitlichen Folgen der Betroffenen aufzukommen haben, wird deutlich, wie groß hier die Schere zwischen Profitdenken und Verantwortung geworden ist. Dem muss dringend Einhalt geboten werden, bevor es zu spät ist: Es mag ein gesundes Gleichgewicht zwischen sozialen und wirtschaftlichen Interessen geben können, aber die Würde des Menschen – und eben, im selben Grundgesetz verankert, auch sein Recht auf körperliche Unversehrtheit – ist unantastbar!

Es ist schon merkwürdig: Die Diskussion um Eckert & Ziegler dreht sich letztlich immer um Fragen des Gesetzes. Häufig wird suggeriert, dass der juristische Blickwinkel alles ganz klar und eindeutig darlegen könnte. Genau das ist aber nicht der Fall. Der Erweiterung bei EZN wären buchstäblich Tür und Tor geöffnet, wenn der Staatsanwalt die Spielräume des Gesetzes im Sinne der Firma auslegen würde statt im Sinne der Bevölkerung. Wenn er aber die Intention des Gesetzgebers – so, wie sie ein Laie versteht – in Betracht zieht, wenn er also das grundgesetzlich verbriefte Recht der Bevölkerung auf Unversehrtheit von Leib und Leben ernst nimmt und juristische Spitzfindigkeiten wie „drei Meter Parkplatz zwischen Firma und Fußweg bedeuten, dass der Messpunkt nicht direkt an Staatsgebiet grenzt“ nicht ausreizt, dürfte nach menschlichem Ermessen eine Erweiterung unmöglich sein, denn dann hätte hier ein Verstoß vorgelegen (und nur darüber befindet der Staatsanwalt, die Frage der Erweiterung gehört in die Politik), der gegebenenfalls zu ahnden, in keinem Fall aber länger zu dulden wäre.

Schauen wir mal genauer hin: Die Strafanzeige gegen Eckert & Ziegler drehte sich unter anderem darum, dass Grenzwerte überschritten wurden (in einem Messbericht des NLÖ – Vorgänger des NLWKN – findet sich dies sogar wörtlich wieder). Wenn man die 2000-Stunden-Regel anwendet, ist diese faktisch sehr hohe Strahlung aber plötzlich legal. Damit wäre sie rechtlich unanfechtbar, außer man könnte nachweisen, dass diese Regelung an konkreten Messpunkten nicht angewendet werden darf, weil diese an Staatsgebiet grenzen und sich theoretisch Menschen dort länger als 2000 Stunden im Jahr aufhalten könnten. Ansonsten: Nichts zu machen, egal, was der gesunde Menschenverstand sagt. Wenn drei Meter Parkplatz zwischen Messpunkt und Fußweg liegen, scheint das entgegen dem Augenschein ausreichend zu sein, um rechtlich korrekt zu handeln. Soviel zur Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit; oder, wie Dr. Thomas Huk es formulierte: „Es wird nicht mit gesundem Menschenverstand geschaut: Ist das hier ein geeigneter Standort?“

Für diejenigen, die mit gesundem Menschenverstand hingeschaut und den Standort, nicht das Vorhaben als solches, für untauglich befunden haben, hängt also alles, innerhalb gewisser Grenzen, die durch den Wortlaut der Rechtsvorschriften gesetzt werden, davon ab, dass Einzelne Verantwortung übernehmen. Erstens müsste der Staatsanwalt in Bezug auf die Strafanzeige Wohlwollen zeigen. Zweitens müssten die zuständigen Institutionen (Stadtverwaltung / GAA / NLWKN) sich der möglichen Auswirkungen ihres Handelns auch jenseits von Vorschriften bewusst werden. Drittens schließlich – und das nicht zuletzt – müsste der Rat der Stadt Braunschweig davon Abstand nehmen, sich möglicherweise einschüchtern zu lassen.

Die Stadtverwaltung hat nämlich den Rat darauf hingewiesen, dass sie aufgrund möglicher Schadensersatzforderungen keine eigene Beschlussempfehlung für eine Veränderungssperre aussprechen könne. Sie habe deutlich gemacht, dass rechtliche Bedenken bestünden, über die der Rat sich allerdings hinwegsetzen könne, so er es den wolle. Das klingt ein wenig nach vorgefertigter Entscheidung: Eigentlich, lieber Stadtrat, müsstest du doch sehen, dass hier Geldnöte auf uns zuschweben, aber wenn du unbedingt willst, nimm das ruhig in Kauf. Zugleich wird aber klar, dass die rechtlichen Bedenken indessen nicht derart eindeutig sind, dass der Oberbürgermeister persönlich einschreiten müsste, um eine derartige Entscheidung im Sinne der Stadt zu verhindern. Das ist meines Erachtens der entscheidende Punkt: Es ist keineswegs unverantwortlich, die Veränderungssperre zu beschließen, weil überhaupt nicht sicher ist, dass dann hohe Zahlungen auf die Stadt zukommen würden.

Und selbst wenn dies der Fall wäre: Die Stadt hat kinderreiche Familien im Umkreis der Firma angesiedelt, und der Stadtrat hat die erste Veränderungssperre aufgrund einer Zusage Herrn Dr. Eckerts zurückgenommen, die jetzt mit guten Gründen angezweifelt werden kann. Müsste Braunschweig dann nicht in erster Linie um das leibliche Wohl seiner Bürger besorgt sein? Da der Bauantrag noch keine Entscheidungsreife erreicht hat, ist aus Sicht des Normalbürgers nicht mit Summen zu rechnen, die die Stadt nicht tragen könnte. Auf jeden Fall sollte die Sorge vor Zahlungen kein Alibi dafür sein, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Eines jedenfalls wurde während des Hearings besonders deutlich: Das Signal gegen eine Erweiterung bei EZN muss von der Politik ausgehen; sollte juristisch ansonsten alles einwandfrei sein, müsste das GAA bzw. müsste die Stadt dem Bauantrag stattgeben. An dieser Aussage gefällt mir eines: Obwohl man zurecht betont, sich an die Gesetze halten zu müssen, versteckt man sich nicht mehr hinter ihnen. Im Gegenteil: Man sagt offen, wo die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen, macht dabei aber zugleich deutlich, welcher Ausweg den Gegnern der Erweiterung ansonsten bliebe. Ein bisschen höre ich aus den diesbezüglichen Äußerungen Herrn Aplowskis auch heraus, dass man in Zukunft über Dinge wie das Minimierungsgebot sogar abseits von Zahlen zu sprechen bereit ist – ein gutes Zeichen!

In einer echten Demokratie wird nämlich sicherlich die eine oder andere rein wirtschaftliche Entscheidung vor ihrer Realisation in den Papierkorb wandern. Das heißt aber keineswegs, dass niemand mehr Profite einfahren darf. Es bedeutet im Idealfall lediglich, dass diese Profite nicht auf Kosten des Nächsten, sondern mit dessen Billigung und gegebenenfalls Unterstützung zustande kommen. Das müsste doch ein gutes Lebensgefühl auf allen Seiten bieten! Nehmen wir unseren Mut zusammen, und wagen wir uns vor in die neue Zeit. Gemeinsam.