Explosion in Ritterhude: Struktureller Hintergrund wie in Thune

Die Explosion einer Chemiefirma in Ritterhude bei Bremen, durch die ein Mensch lebensgefährlich verletzt wurde und deren Druckwelle am Abend des 09. September 2014 viele Häuser zerstörte, schockierte nicht nur die Betroffenen. Fassungslosigkeit in den Medien: Wie konnte das passieren, wie konnte die direkte Nachbarschaft von Betrieb und Wohnhäusern zugelassen werden? Die BISS fühlt mit den Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Und sie sieht weit mehr Parallelen zwischen Ritterhude und Thune als die Tatsache, dass hier wie dort gefährliche Firmen im Wohngebiet zugelassen wurden.

Ein simpler Blick in die „Buten un binnen“-Nachrichten (oder beliebige andere Formate) ergibt mindestens folgende vergleichbare Aspekte:

  • Ritterhude: Chemiefabrik.
    Thune: Chemiefabrik (Buchler GmbH) neben den Nuklearfirmen GE Healthcare Buchler und Eckert & Ziegler, teils mit Tochterunternehmen.
  • Ritterhude: Die Anwohner wohnen im Mischgebiet, die Industrieanlage steht auf einem Gewerbegebiet, müsste aber im Industriegebiet liegen; im Bericht wird dies als „Fauxpas“ bezeichnet.
    Thune: Hier stehen die Firmen im Industriegebiet, aber es fehlt ein trennendes Mischgebiet, das Industriegebiet grenzt unmittelbar ans Wohngebiet. Auch ein Fauxpas.
  • Ritterhude: Die Firma erweiterte sich innerhalb von 20 Jahren auf ein Maß, das eine Bürgerinitiative auf den Plan rief.
    Diese Initiative warnte 10 Jahre lang vor den Gefahren, die aus der Nähe von Wohnhäusern und Firmen resultieren.
    Thune:
    Die Firma Buchler siedelte nach dem Umzug nach Wenden 1969/70 sukzessive weitere Firmen an; aufgrund der beantragten neuen Halle zur Behandlung radioaktiven Mülls und der enormen radioaktiven Umgangsgenehmigung wird befürchtet, dass sich mit der Firma Eckert & Ziegler in Thune eine Atommülldrehscheibe entwickelt.
    Die Bürgerinitiative Strahlenschutz Braunschweig (BISS) e.V. warnt seit gut drei Jahren vor den Gefahren.
  • Ritterhude: Die Bürgermeisterin betont, sie habe die Firma umsiedeln wollen, dafür bräuchte es aber bestimmte Bedingungen. Sie habe die Firma nicht schließen können, denn das Gewerbeaufsichtsamt (GAA) sei hier zuständig.
    Thune:
    Von Umsiedlung ist hier nirgends erkennbar die Rede, allenfalls finden sich ein paar halbherzige Versuche, die sofort mit finanziellen Argumenten enden – und was die Genehmigungen angeht, mit Verweis auf das bis vor kurzem zuständige GAA.
  • Ritterhude: Ein Anwohner sagt aus, die Schuld läge nicht nur beim skrupellosen Unternehmer, sondern es hätten zusätzlich sehr viele Schreibtischtäter die Zustände geduldet und weggeguckt.
    Thune: Ob der Fall hier ähnlich liegt, mag jeder selbst beurteilen. Wir erinnern an dieser Stelle an die durch die Firma Amersham Buchler falsch deklarierten Asse-Fässer, in denen stark strahlender Müll illegal entsorgt werden sollte. Und was Eckert & Ziegler angeht, so fallen uns spontan die Äußerungen des Firmenchefs Andreas Eckert ein, der die Braunschweiger als „moderne Taliban“ und die Sprösslinge von Interviewteilnehmern als „Kindersoldaten“ bezeichnete. Wie aktuell der Geschäftsführer in Ritterhude hat sich auch Eckert damals geweigert, den Journalisten (damals des NDR) Auskunft zu erteilen.
    Was die „Schreibtischtäter“ angeht, möge jeder sich selbst ein Bild machen.
  • Ritterhude: Es hat viele „Runde Tische“ gegeben, und man hat der Firma als Sicherheitsnetz viele Auflagen auferlegt, die auch alle eingehalten wurden. Das genügte offenbar trotzdem nicht, um die Anwohner zu schützen.
    Thune:
    Gespräche gibt es hier auch viele. Erkennbare Auflagen, die die Strahlenbelastung verringern würden, hat man den Firmen jedoch bislang nicht gemacht, obwohl bei Schaffung des Industriegebiets für den Fall neuer Risikoerkenntnisse entsprechende Auflagen in Aussicht gestellt worden waren. Von Zusammenarbeit mit dem Land, das für die Strahlengenehmigung zuständig ist, kann hier aus Anwohnersicht nicht die Rede sein.
    Ritterhude:
    Der Airport Bremen liegt ca. 20 km südöstlich.
    Thune:
    Die Anflugschneise des Flughafens Braunschweig-Wolfsburg (mit Forschungsflughafen) liegt in unmittelbarer Nähe des Firmengeländes. Das Restrisikogutachten bestätigt eine daraus resultierende Gefährdung.
  • Ritterhude: Der Betrieb war erst im Juni kontrolliert wurden; Ergebnis: keine Beanstandungen, nur „einige Hinweise“, die aber nicht beunruhigend gewesen seien.
    Thune: Ist es keine Beanstandung, wenn eine offiziell beauftragte Stellungnahme zum Restrisiko erkennt, „dass im normalen Betriebsablauf das radiologische Risiko eines Anwohners der Braunschweiger Betriebe als größer einzuschätzen ist als das radiologische Risiko eines Anwohners eines Kernkraftwerks“?
  • Ritterhude: Man hat viel mit dem Landkreis, einer Industriegewerkschaft, dem GAA und anderen gesprochen. Hauptsinn der Gespräche scheint gewesen zu sein, die Firma „so aufzustellen, dass sie bleiben konnte“. Argument: Bestandsschutz.
    Thune:
    Man spricht auch mit uns, übergeht aber unsere Sachargumente mit nicht nachvollziehbarer politischer Logik. Das Thema Bestandsschutz wird von der Stadt derart in den Vordergrund gerückt, dass die vorhandenen Firmen nicht nur bleiben, sondern sich auch erweitern dürfen, obwohl ein von der Stadt beauftragtes Risikogutachten in Form einer Stellungnahme für die Anwohner ein höheres Risiko bescheinigt als für die Anwohner eines Atomkraftwerks.
  • Ritterhude: Die Firma wurde als innovative Firma angesiedelt, mit neuem Verfahren bzw. erworbenen Patenten. Außerdem stand dort schon eine 100 Jahre alte Farben-Lacke-Fabrik. Damals wurde der Standort nicht kritisiert, mittlerweile aber seit 10 Jahren durch eine Bürgerinitiative.
    Thune:
    Die Firma Buchler GmbH ist eine der wenigen Firmen weltweit, die Chinin herstellen (Alleinstellungsmerkmal); die Familie Buchler mit zugehörigen Unternehmen ist bereits seit über 100 Jahren in Braunschweig tätig. Die Firma Eckert & Ziegler ist (soweit wir wissen) bundesweit das einzige privatwirtschaftliche Unternehmen für die Konditionierung von Atommüll. Das scheinen für die Stadtverwaltung Gründe genug zu sein, die Firmen gegen die Bürger zu verteidigen. Der Thuner Standort war nie kritiklos hingenommen worden; seit nunmehr drei Jahren ist der Widerstand deutlich hörbar.
  • Ritterhude: Die Bürgermeisterin schließt Wiederaufbau an dieser Stelle aus.
    Thune:
    Nicht ohne Grund hat die Entsorgungskommission des Bundes (ESK) im Stresstest für Thune darauf hingewiesen, dass das gesamte Gelände betrachtet werden müsse, also auch mögliche Wechselwirkungen mit den (starken!) Strahlern aus der Medizin. Auch die gefährlichen Chemikalien (Toluol, Chlorameisensäure, starke Säuren, Lösungsmittel u.a.) auf dem Gelände der Firma Buchler könnten hier zu Buche schlagen. Ob bei einem Stör- oder Unfall ein Wiederaufbau von irgendwas innerhalb der Evakuierungszone überhaupt infrage käme, wenn man betrachtet, dass die Genehmigungen für die Atomfirmen die Bearbeitung des Mehrhundertfachen des Asse-Inventars zulassen, mag jeder selbst beurteilen.

Fazit:

Hier wie dort lief alles nach Recht und Gesetz ab, in Thune zumindest großenteils (sieht man vom illegalen Containerlager ab) – zugleich aber offenbar völlig entgegen dem gesunden Menschenverstand. Das kann nicht der Sinn rechtsstaatlicher Verordnungen sein.

Ritterhude muss Einzelfall bleiben: Thuner Erweiterung verhindern!