Adventsgeflügel

Ich dachte, ich sehe nicht recht: Beim Vorbeifliegen am Gelände strahlte mir aus einem erleuchteten Bürofenster an der Harxbütteler Straße ein Weihnachtsengel entgegen!? Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, jetzt im Advent, aber normalerweise ist eben am Gelände fast nichts „gewöhnlich“. Atommüll im Wohngebiet halt. Deshalb erfreute mich dieses Friedens- und Hoffnungssymbol.

Zwar wirkte beim erneuten Vorüberfliegen der Weihnachtsengel eher wie ein Vogel an der Wand (ich glaube, ich brauche langsam eine Eulenbrille), auch dieser Anblick brachte aber Assoziationen in Wallung. Geflügeltes Gelände: Wenn das Gelände Flügel hätte, könnte es wegfliegen, wie ein Vogel… An einen sicheren Ort, wo diejenigen, die mit Atommüll und stark strahlender Medizin umgehen, dies tun können, ohne andere zu gefährden.

Mir fällt da wieder dieser Truppenübungsplatz bei Celle ein, der bereits mit abgereichertem Uran aus Uranmunition belastet ist. Das wäre eine Alternative: Stadt, Land und Bund könnten vielleicht sogar Fördergelder der EU dafür beantragen. Dort wäre ein Nuklearbetrieb sicher besser aufgehoben als im Wohngebiet.

Ein Wohngebiet sollte Sicherheit bieten, so wie der Gänserich Martin sie dem kleinen Nils Holgersson schenkt, wenn der unter seinem Flügel einschläft. Überhaupt, von wegen „dumme Gans“ – Gänse warnen Menschen, zum Beispiel vor Erdbeben. Am Gelände bräuchten wir auch solche Gänse: Die Information der Bevölkerung im Fall erhöhter Strahlung obliegt nämlich dem Betreiber. Und ob der diese hörbar hinausschnattern würde, ist mindestens fraglich.

Wir prangern den Standort an, weil er unnötig Menschen gefährdet und in großem Maßstab ausgebaut werden soll. Die Arbeit in der Herstellung von Medizin ist sinnvoll, solange es keine Alternative gibt. Und die Verarbeitung von Atommüll – wenn er denn angefallen ist – muss erledigt werden. Und es ist gut, dass es Menschen gibt, die diese Arbeit tun!

Hätte das Gelände Gefieder, könnten diese Fittiche sich in die Lüfte erheben und dabei alle Rückstände, alle möglicherweise belasteten Böden, Altlasten und die kaputte Cäsiumbox mit sich nehmen. Die strahlt bekanntermaßen so stark, dass niemand weiß, wie man sie vom Gelände verbringen soll. Da muss es doch eine Lösung geben! Dann wäre Platz für zukunftsträchtige Visionen: Naherholungsgebiet, Seniorenparadies, weiterer Platz für Kinder…? Krempelt die Löwenärmel hoch, wir gestalten den Norden Braunschweigs gemeinsam!

Diesen Gedanken versagte ich mir jedoch unmittelbar wieder, hatten doch die Verantwortlichen sämtlicher Ebenen, von Stadtverwaltung und Rat der Stadt Braunschweig bis hin zu Land und Bund (dieser zuletzt indirekt, bezüglich Schacht Konrad, für den Eckert & Ziegler bekanntermaßen konditionieren will), oft genug verdeutlicht, dass sie die Erweiterung zur potentiellen Atommülldrehscheibe Braunschweig zulassen werden: Zwar wird dabei das Wort „Atommülldrehscheibe“ nicht verwendet, teils sogar explizit abgelehnt, aber die Vermeidung eines Wortes ändert nichts an der Realität, die dahinter liegt.

Und die Behauptung, man müsse die Erweiterung zulassen (Bestandsschutz, Planungssicherheit, Rechte der Firmen…), kommt von derselben Verwaltung, die zwei Jahre lang behauptet hatte, sie dürfe Radioaktivität nicht berücksichtigen – bis wir das Gegenteil belegten. Vorläufig können wir dieser Verwaltung nicht mehr trauen; da muss sie schon in Vorleistung gehen und einmal merklich im Sinne der Bürger entscheiden.

An diesem Punkt erinnerte ich mich wieder an den Engel, obwohl ja eigentlich keiner da war (jedenfalls nicht in Gestalt des Raumschmucks im Büro). Was sagt der Weihnachtsengel zu den Hirten? „Fürchtet Euch nicht!“ Dieser Satz gilt für uns alle, für die Anwohner, für diejenigen, die auf dem Gelände tätig sind, und auch für Bund und Land wie für Rat und Verwaltung der Stadt Braunschweig.

Es ist ein versöhnlicher Gedanke, dass wir alle Mut haben dürfen. Die Stadt darf (und muss!) sich um ihre Bürger kümmern und ihr Leben gestalten, auch und gerade in einer globalisierten Welt, die den großen Unternehmen immer mehr Instrumente zur Verfügung stellt, um selbstgesetzte Gewinnspannen einzuklagen, wenn jemand die Umwelt oder die Lebewesen darin schützen will. TTIP und CETA sind ein Damoklesschwert auch für Thune, aber wenn wir zusammenarbeiten, haben wir eine Chance. Liebe Verwaltung, lieber Rat der Stadt Braunschweig – beweist Mut!

Es heißt, vor Gericht und auf hoher See sei man in Gottes Hand. Angesichts der Entscheidungen, die Rat und Verwaltung in letzter Zeit bezüglich des Nukleargeländes getroffen haben, ist man versucht zu ergänzen: Vor Gericht, auf hoher See und in Braunschweigs Norden ist man in Gottes Hand. Alle unwiderleglichen Argumente der Bürger und ihr gutes Recht auf eine gesunde Lebenswelt werden mit Füßen getreten.

Neben all den anderen Ungereimtheiten und unverständlichen Bevorzugungen der Firmen mag hier als Beispiel dienen, was wir dieser Tage in einer der Genehmigungen lesen mussten, die das Niedersächsische Umweltministerium uns nach zähem Ringen zumindest in Teilen zur Verfügung gestellt hatte. Dass die Abluft für einige Nuklide mehrere hundert Mal den Höchstwert der Strahlenschutzverordnung erreichen darf, ist lange bekannt. Das ist schlimm genug.

Nicht nachvollziehbar ist aus Eulensicht allerdings, weshalb es nötig sein soll, zur Sicherung der Einhaltung der Grenzwerte in der „Weideperiode (Mai – Oktober)“ spezielle Vorgaben zu machen. Heißt das, der Spaziergänger an sich hat leider von November bis April Pech gehabt, wenn er denn unbedingt einatmen will…? Und was ist mit Gartenkräutern, die – wie in diesem Jahr – noch im Dezember geerntet werden können? Müssen wir damit rechnen, dass da bei ganz blöder Wetterlage der gelegentliche Happen Jod-131 in der Suppe schwimmt?

Wenn die Atomhalle in Thune gebaut wird, und ich verwende jetzt bewusst diese großen Worte, brauchen wir alle einen Schutzengel, dann sind wir alle in Gottes Hand. Wir sind es bereits jetzt, denn bereits jetzt ist das Risiko für Anwohner größer als das an einem Atomkraftwerk.

In Gottes Hand zu sein, bedeutet aber auch: Die Atommülldrehscheibe kann verhindert werden. Das muss nur politisch gewollt sein. Es sind widerliche Gedanken, die Geld über Leben stellen, und sie nützen letztlich nicht einmal demjenigen, der finanziell profitiert. Wir sind Anfang Dezember nur knapp an der Offenlage des neuen Bebauungsplanes vorbeigeschrammt, die die Errichtung der Halle nach sich gezogen hätte. Nun gibt es zumindest bis ins nächste Jahr hinein eine Atempause. Der Advent ist gerettet. Wie der Engel es sagt: „Fürchtet Euch nicht!“